Kreativität

Dies ist – in Bezug auf die Routenqualität – vom Standpunkt des Kunden aus betrachtet der wohl wichtigste Aspekt. Und ihm muss auch das Hauptaugenmerk gelten, denn die beiden oben dargelegten Punkte sollte ein guter Routenbauer ohnehin verinnerlicht haben. Eine subjektiv und objektiv schöne Route ist nicht nur Werbung für den Routenbauer selbst, sondern auch für die Kletterhalle, in der sie sich befindet. Der Anspruch gute Routen zu schrauben ist also kein reiner Selbstzweck, sondern auch ein Instrument des erfolgreichen Marketings.
Eine kreative Route entsteht nicht erst beim Schrauben an der Wand, der kreative Prozess beginnt bereits mit der Auswahl der Griffe. Das Augenmerk hierbei liegt auf der Auswahl möglichst vielfältiger Griffformen (Leisten, Aufleger, Fingerlöcher etc.), die den gesamten Kletterer fordern und ein vielfältiges Trainingsangebot gewährleisten. Wichtig ist auch, dass nicht immer offensichtlich ist, wie ein Griff am besten zu greifen ist, um eine onsight Begehung spannender zu machen. Besonders interessant sind Griffe, die vielfältige Griffmöglichkeiten bieten, je nachdem wie sie gedreht sind. Solche Griffe ermöglichen komplexe und damit die Attraktivität der Route erhöhende Einzelstellen, bei denen im besten Falle sogar mehrere Kletterzüge an ein und demselben Griff stattfinden.

IMG_2618

Beispiel für einen interessanten, vielfältigen Griff, der in diesem Fall bis zu 5 Griffmöglichkeiten bietet

Trotzdem müssen die Griffe der angestrebten Schwierigkeit angepasst sein – der schönste Griff nützt nichts, wenn er den Kletterer in seinem Schwierigkeitsbereich überfordert. Ferner sind bei der Griffauswahl auch bestimmte Geländestrukturen zu berücksichtigen. So sollte beispielsweise der Griff, der bei einem Zug um oder über eine Kante angesteuert wird eher rund sein, da dieser in einem wesentlich spitzeren Winkel gegriffen wird (< 90°) als normal (90° und mehr); eine Leiste ist durch ihre Kante an dieser Stelle schmerzhaft zu greifen.

Griff an Kante

A: Griffe, die sich über Kanten befinden werden in einem sehr spitzen Winkel belastet, weshalb hohe Kraftspitzen an der Griffkante auftreten. B: Bei Griffen an gerader oder überhängender Wand beträgt der Belastungswinkel 90° oder mehr – hier dürfen Kanten daher jederzeit verwendet werden

 IMG_2616

Beispiel für einen schlecht (neongelber Griff links) und einen gut (rechter, orange-gelber Griff) ausgewählten Griff

Ein weiteres Beispiel wäre ein Henkel, der angesprungen werden soll. Auch dieser sollte eine abgerundete Kante besitzen, da eine scharfe Kante beim Abfangen des Schwunges in die Haut einschneidet. Nicht zuletzt zeichnen sich gute Routen heutzutage auch durch einen ästhetischen Aspekt aus. Routen sollen ins Auge fallen, z.B. durch

  • besonders große, vielfältige Griffe
  • auffällige Einzelgriffe
  • Formen, die durch die Griffabfolge entstehen
  • Verwendung von Volumen

Kreativer Einsatz von optisch interessanten Griffen führt nicht nur zu einer vermehrten Begehung der Route sondern erhöht auch die Attraktivität der Kletterwand allgemein.
Ist die Griffauswahl getroffen, beginnt man in der Regel mit dem Entwurf der Einstiegssequenz (es sei denn, die Route wird von oben nach unten geschraubt). Diese darf in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden, denn sie stellt den ersten Kontakt eines Kletterers mit der Route dar und dient so gewissermaßen als Aushängeschild für diese (viele Kletterer bouldern überdies gerne beim Aufwärmen durch die Einstiege von neugeschraubten Routen). Man sollte sich diesen ersten Bewegungen daher mit viel Sorgfalt widmen und Wert auf Abwechslung in seinen Einstiegen legen. Grundsätzlich leiten Einstiegssequenzen die Route harmonisch ein, was mit etwas besseren Griffen, guten Tritten und sicheren Klipppositionen leicht erreicht werden kann. Eine Einstiegssequenz kann aber durchaus auch einen Vorgeschmack auf den Charakter einer Route geben, also z.B. nur Griffe einer bestimmten Art (Leisten, Aufleger etc.) enthalten oder bewusst dynamisch sein.
Eine kreative Route ist vor allem abwechslungsreich – und das unter verschiedenen Gesichtspunkten. Zunächst einmal soll sie den Kletterer technisch fordern, sowohl grifftechnisch als auch von seinem Bewegungsrepertoire her. Optimalerweise ist vom Boden aus nicht alles direkt durchschaubar, was stets ein gewisses Maß an Improvisation erfordert und die Spannung beim Klettern deutlich erhöht. Auf dem Weg nach oben soll eine Vielzahl an Klettertechniken durchlaufen werden, die jedoch, genauso wie die Griffe, der Kletterschwierigkeit angepasst sein müssen. So hat beispielsweise ein Kreuzzug in einer Dreierroute nichts verloren. Absolut zu vermeiden sind langweilige, leiterähnliche rechts-links Kombinationen – auch bzw. vor allem in leichten Routen! Weiterhin soll der Routenverlauf nicht permanent gerade sein; vielmehr ermöglicht eine „schlängelnde“ Linienführung wesentlich mehr technische Elemente, wodurch sich die Route und damit im besten Fall auch der Kletterspaß verlängern. Wichtig dabei ist auch, dass vorhandene Strukturen und Wandelemente so gut als möglich eingebaut werden – sie bieten gestalterische Möglichkeiten, die man auf einer rein glatten Wand nicht hat und tragen so wieder zu erhöhter Kreativität bei. Darüber hinaus muss eine Route, sollen bereits vorhandene Strukturen bewusst ausgespart werden, definiert werden, was den Klettergenuss nicht unbedingt erhöht und in der Wand oft für Verwirrung sorgt. Empfehlenswert ist es, in die Klettertour eine oder sogar mehrere Schlüsselstellen einzubauen, die dann gewissermaßen das Herzstück der Route bilden. Diese stechen meist durch einen erhöhten Schwierigkeitsgrad hervor, können alternativ aber auch z.B. technisch besonders knifflige oder undurchschaubare Stellen sein. Allerdings müssen Schlüsselstellen beileibe nicht immer vorhanden sein, ein Beispiel, bei dem eine Schlüsselstelle den Kletterfluss geradezu stören würde, wäre eine speziell auf das Kraftausdauertrainig gemünzte Tour. Tritte führen beim Routenbau oft ein Schattendasein – dabei können sie entscheidend Einfluss auf den Kletterfluss, ja sogar auf die Art und Weise, wie eine Einzelstelle zu klettern ist, nehmen. Gerade bei Kletterern mit geringer Körpergröße führt ein allzu sparsamer Einsatz von Tritten häufig zu Frust. Tritte sollen daher reichlich Verwendung finden, im Zweifelsfall lieber einen Tritt zu viel als einen zu wenig. Beim Entwerfen spektakulärer Einzelstellen und kniffliger Zugfolgen darf man eines jedoch nie vergessen: Sind die Züge nicht zwingend so wie vorgesehen zu klettern, verpufft die gesamte Kreativität wirkungslos und kann sich im schlimmsten Falle sogar ins Gegenteil verkehren, da das Überziehen von Zügen meist mit stereotypen, durch und durch unkreativen Längenzügen einhergeht.
Häufig liegt das Problem jedoch nicht darin, eine einzelne gute Route hervorzubringen, sondern über lange Zeit immer wieder kreative Klettertouren zu schrauben. Dies betrifft vor allem die Routenbauer, die fest in einer Kletterhalle arbeiten und die zur Verfügung stehenden Wände bereits in- und auswendig kennen. Meist sind die Kunden mit der Zeit auch mit dem Stil des Schraubers vertraut und so kann schnell eine Stagnation eintreten. Hier muss es ein guter Routenbauer schaffen, immer wieder zu überraschen, seinen Stil variieren zu können. Dabei ist vor allem Inspiration gefragt: Kletterpassagen, die man am Fels geklettert ist, Zugfolgen die man selbst auf dem Notizzettel „erfindet“… Auch das Abschauen bei anderen Routenbauern ist absolut legitim, gerade bei erfahrenen Personen gibt es unheimlich viel zu lernen. Es ist sogar möglich, bewusst den Stil eines anderen Routenbauers zu imitieren. Nicht zuletzt muss regelmäßig das Thema der Route variiert werden, d.h. Anforderungen (Technik/ Kraftausdauer/ Maximalkraft), Charakter (Plaisierroute/ psychisch anspruchsvolle Route) und Schwierigkeitserzeugung (große Griffe und schlechte Tritte vs. kleine Griffe und gute Tritte, dynamisch vs. statisch, gerade vs. überhängend, positiv vs. negativ gedrehte Griffe u.v.m.) sollten ständig verändert werden. Weitere Möglichkeiten, eine Route zu modifizieren sind:

  • Ein- und/ oder Ausstiegsvarianten (zusätzlicher Ein-/ Ausstieg)
  • Einstiegstraversen
  • Route über mehrere Hakenreihen führen
  • Routenschwierigkeit nach oben hin steigern (wie bei einer Wettkampfroute)
  • Themenrouten (z.B. nur Aufleger oder nur Untergriffe)

Zurück zu: Handwerkliche Umsetzung